Nach Corona scheint der Antisemitismus der nächste globale Virus zu sein, aber exponentiell gesteigert, denn dieser Virus erfreut sich viel größerer Beliebtheit.
Kennen Sie die Geschichte von dem Mann, der in finsterer Nacht um einen Laternenpfahl kreist und angestrengt auf den Boden starrt? Kommt ein Polizist vorbei und fragt: »Was machen Sie da?« Darauf der Mann: »Ich habe meine Brieftasche verloren und muss sie unbedingt finden, sonst bin ich verloren!« Der Polizist lässt sein professionelles Auge nun ebenfalls angestrengt über den Lichtfleck auf dem Boden um den Laternenpfahl schweifen. Nach einer halben Stunde vergeblicher Mühe beginnt er sich ein wenig zu wundern: »Sind Sie sicher, dass Sie Ihre Brieftasche genau an dieser kleinen Stelle verloren haben?« – »Nein, natürlich nicht. Aber überall sonst ist es ja stockfinster, nur hier ist Licht.«
Genauso kreist, wie es scheint, die Welt, inklusive sämtlicher offizieller Vertreter, um Israel. Nur dort gibt es im Nahen Osten Demokratie und somit Meinungsfreiheit. Dort wird man nicht erschossen, nicht von Dächern gestoßen und nicht aufgehängt, wenn man was auch immer von sich gibt. Israel ist wie dieser Lichtfleck unter dem Laternenpfahl, während im weitläufig Stockfinsteren rundum passieren kann, was will. Was dort geschieht, bleibt ungesehen oder wird nur ungern wahrgenommen. Seien es die Gräueltaten im Sudan, in Afghanistan, Syrien, dem Kongo, dem Iran oder jene in den Gewaltmaschinerien jeder Diktatur von China bis Russland und Nordkorea. Nichts gesehen, nichts geschehen. Finster.
Globaler Virus
Ich kann das sogar irgendwie nachvollziehen. Wäre ich Auslandskorrespondent, gefiele es mir in Tel Aviv auch um einiges besser als in Kabul, Damaskus, Tibet oder Pjöngjang, wo es nicht nur, sagen wir einmal, weniger lebensfroh, sondern lebensgefährlich zugeht; jedenfalls, wenn man anderer Meinung als das jeweilige Regime ist. (Auch das Essen ist wesentlich besser.)
Aber was sich seit dem 7. Oktober 2023 an Abgründen von Hass auf die Opfer der Hamas auftut, sprengt jeden Rahmen, den man sich gerade noch vorstellen kann. Wie weit kann eine Täter-Opfer-Umkehr noch gehen? Der systematische Genozid der Terrororganisation in Israel an diesem Tag wird verharmlost und ist bereits längst vergessen. Währenddessen wird Israel, propagandistisch sensationell erfolgreich, als Täter porträtiert, beflegelt und zunehmend aggressiv bedroht. Die UNO, jene Organisation, die inzwischen mehrheitlich von Vertretern von Diktaturen und Terror-Regimes zersetzt ist, hetzt am eifrigsten. Es betrifft längst nicht mehr »nur« Israel, sondern Juden weltweit. Es kommt mir vor wie eine Massenpsychose, eine Art kollektiver Geisteskrankheit, verquickt mit Verschwörungstheorien, belebt von nostalgischer Sehnsucht nach Hexenverbrennungen.
Das ist natürlich nicht neu und schon Klügeren als mir aufgefallen; die Krankheit ist längst erkannt. Um nur einige der bekannteren Analysten unter Soziologen, Philosophen, Literaten oder sonstigen Denkern zu nennen, die auf die Dunkelheit außerhalb des Lichtkegels um den Laternenpfahl hingeschaut haben: Zygmunt Baumann beschreibt Judenhass als psychisches Kollektivsymptom, »ein irrationales, paranoides System, das sich auf Verschwörungen, Mythen und Projektionen stützt«. Hannah Arendt zeigte die ideologisch geschlossene Denkstruktur auf, die einer kollektiven Verblendung gleicht und ein zentraler Baustein totalitärer Systeme ist. Jean-Paul Sartre erkannte die irrationale psychische Projektion darin, dass der Antisemit den Juden braucht, »um sich selbst zu definieren«.
Es ist wie eine Epidemie, gegen die es aber auch weiterhin keine Impfung oder Medikamente geben wird. Während der Corona-Zeit, immerhin eine wirklich globale Krise, bekriegten sich die Menschen zumindest nur wegen Klopapier-Vorräten. Das war schon destruktiv genug. Jetzt scheint der globale Virus der Judenhass zu sein, aber exponentiell gesteigert, denn dieser Virus erfreut sich historisch viel größerer Beliebtheit.
Keine anderen Probleme?
Millionen weltweit demonstrieren, teilweise gewalttätig, gegen Israel, gegen Juden und für die Auslöschung der einzigen Demokratie in dieser Region. Andersdenkende, die sich nicht mit den Hetzern und Hassern solidarisieren wollen, vor allem Juden, haben bereits eine unsichtbare Zielscheibe am Rücken. In den meisten Ländern finden sich auch noch ausgerechnet unter Kulturschaffenden, Intellektuellen und sogar, man höre und staune, den Homosexuellen und Queeren, die in islamischen Ländern auf Kränen aufgeknüpft werden, lautstarke Befürworter des Hasses.
Wer eine andere Meinung hat, avanciert zum Todfeind. Fakten? Die machen keinen Unterschied. Ein gemeinsamer Wahn, vereint gegen einen imaginierten gemeinsamen Feind. Der Jud’ ist schuld. Ein Schelm, wer da an die bestialisch erfolgreiche Propaganda der Nationalsozialisten in Deutschland und Österreich oder die stalinistischen Schauprozesse denkt.
Ein konkretes Fallbeispiel, eines von unzähligen: Die öffentliche Meinung in der wahrscheinlich bedeutendsten als liberal und weltoffen geltenden Stadt der Welt, New York City, scheint kein wichtigeres Thema im Bürgermeister-Wahlkampf zu bewegen als der Gaza-Krieg. Sonst hat diese Großstadt keine Probleme?
Seien wir einmal ehrlich: Wen dort interessiert der Gazastreifen, außer vielleicht die knapp eine Million Juden, die sich zu Recht bedroht fühlen? Aber ein äußerst aussichtsreicher, und auch noch demokratischer Kandidat, Zohran Mamdani, kürt die Hetze erfolgreich zur Ideologie: Er verurteilt die Hamas ausdrücklich nicht. Er erkennt das Existenzrecht Israels als jüdischer Staat nicht an. Er hofiert die BDS-Bewegung. Er beklatscht Verschwörungstheoretiker, welche die Schuld am 9/11-Terroranschlag den USA zuschreiben. Er ruft zu einer globalen Intifada auf. Er behauptet, es finde ein Genozid an Palästinensern statt. Dieser Mann hat gute Chancen, die Wahlen zu gewinnen. Soll der nach eigenen Aussagen »stolze Moslem« wirklich der Bürgermeister aller New Yorker werden?
Wir hören so oft etwas von »Verhältnismäßigkeit«, im Allgemeinen dann, wenn jemand wieder einmal überzeugt ist, gebraucht zu werden, um den Israelis Israel zu erklären. Dabei gibt es vor allem eine Sache, die nicht verhältnismäßig ist: die globale Seuche der zunehmend salonfähigen Judenhetze.
Wann wachen wir auf? Werden wir aufwachen?