NU - Mammeloschn

Abschied

NU - Ausgabe Nr. 51 (1/2013)

Von Erwin Javor

In Nadwurne, einem Schtetl in Galizien, wird ein neuer Rabbiner engagiert. Der alte liegt im Sterben. Schon beim ersten Gottesdienst, den der Neue, Reb Herschel, abhält, entzündet sich ein erbitterter Streit in der Gemeinde. Die eine Fraktion behauptet, beim Schma Jisrael (dem wichtigen Gebet „Höre Israel“) muss man aufstehen, die andere Hälfte schwört darauf, dass man sitzen bleiben muss. Die beiden Gruppen geraten sich in die Haare, dass dem neuen Rabbiner Hören und Sehen vergeht. Noch am gleichen Abend eilt er an das Sterbebett seines Vorgängers, Reb Schmuel, um ihn, solange das überhaupt noch möglich ist, um Rat zu bitten. „Sag, was ist die Takune (Tradition)? Beim Schma aufzustehen?“ Der sterbende Schmuel schüttelt kaum merklich, aber deutlich den Kopf. „Also ist es Minhag (der Brauch) beim Schma sitzenzubleiben!“ Mit letzter Kraft erklärt Reb Schmuel dem Greenhorn: „Dus is nischt die Takune!“ (Das ist nicht die Tradition!) Der junge Rabbiner ist ratlos. „Aber der Ojlem (die Gemeinde) streitet doch die ganze Zeit!“ Das Leben aushauchend klärt Reb Schmuel seinen Nachfolger noch auf: „Dus is die Tradizie! (Genau das ist die Tradition!) Apropos Tradition: Wenn es einem Pressefotografen gelingt, das Foto des Jahres zu schießen, kann er erfahrungsgemäß reich werden. Sehr reich. Und berühmt. Sehr berühmt. Wenn es auch noch gut ist, vielleicht sogar unsterblich. Kein Wunder also, dass bei der Abschlussprüfung der Pressefotografen des elitären New York Center of Excellence in Contemporary Photography so viel Nervosität in der Luft liegt, dass man sie schneiden könnte. Alle waren sie angetreten. Dwayne Clint, Jerry-Lee Hill, Billy-Bob Smith, Johnny Hickory, sogar die wilde Suzanne Prewster. Die, die schon erste Paparazzi-Erfahrungen sammeln konnten, die schon viel geübt hatten, die ganz lang die Theorie gelernt und Kurse besucht oder die beste Ausrüstung gekauft hatten, die man gerade noch schleppen kann. Sie wussten, es ging um alles. Scheel sahen sie einander im Warteraum von der Seite an. Wer würde es heuer schaffen, wer nicht? Sie wussten, die Prüfer waren unerbittlich. Unbestechlich. Endlich flog die Tür zum Prüfungszimmer auf. Die gelangweilte Stimme des Leiters der Prüfungskommission, Joe Shalom Greenberg, rief den ersten Prüfling auf. Es traf, in strikter alphabetischer Reihenfolge, Dwayne. Manierlich, wie man es kaum von ihm kannte, legte er sein Portfolio vor und erwartete einen ersten Kommentar von Greenberg und den anderen Kommissionmitgliedern, Moscovice, Lebovici und Rosenberg. Die unbestechlichen Vier blätterten ohne erkenntliche Emotion in seiner Mappe, seufzten kurz, schauten einander vielsagend an und auf die Uhr, und schließlich stellte Rosenberg die entscheidende Prüfungsfrage, die bei zweifelhaften Bewertungen von Arbeiten durch theoretische Kompetenz den Ausgang der Prüfung in die eine oder andere Richtung lenken konnte: „Na gut, Mr. Flint ... Clint. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem Schnellboot mit voller Ausrüstung und brausen auf Motivsuche am Amazonas durch den brasilianischen Regenwald. Plötzlich durchdringt ein Schrei das Affengekreisch und Papageiengekrächze. Sie kommen immer näher zu den Stromschnellen, und da sehen Sie, woher der Hilfeschrei kommt. Ein Mann ist kurz davor, von den reißenden Fluten hinabgerissen zu werden. Es ist Mahmud Ahmadinedschad, der iranische Präsident. Sie sind mit allen Finessen ausgerüstet, die man in so einer Situation womöglich brauchen könnte. Es wäre ein Leichtes, ihm einen Rettungsring oder ein Tau zuzuwerfen, um ihn an Bord zu ziehen. Andererseits, wenn Sie ihn nicht retten, können Sie sicher sein, dass Ihr Foto auf Seite eins aller Zeitungen weltweit den ertrinkenden Präsidenten zeigen wird, und Sie sind mit einem Schlag ein gemachter Mann.“ Dwayne Clint schluckt. Rosenberg fährt fort: „Und nun die alles entscheidende Frage: Welches Objektiv nehmen Sie, Tele oder Weitwinkel?“ Apropos: Abschied. Wie sich Engländer und Juden unterscheiden, das wissen Sie, oder? Engländer gehen, ohne sich zu verabschieden – und Juden verabschieden sich, ohne zu gehen. Aber jetzt ist es genug mit Mammeloschn, es wird Zeit für mich, meine englischen Verwandten vom Flughafen abzuholen.